2. Exegetische Regeln
Während die drei Schlußarten die Ermittlung des Unbekannten im gegebenen Fall, also im Leben, zu ihrem Gegenstand haben, ist das Ziel der restlichen vier Deuteregeln die Erforschung des X im Text. Sie sind exegetische Regeln, die sich allerdings leicht in logische Denkgesetze umwandeln lassen. Die erste behandelt den Widerspruch in der Bibel und heißt „Schneh-Ktuwim — zwei Sätze” (die sich widersprechen). Da die Lehre wahr ist, darf sie keine Widersprüche enthalten; die Wahrheit kann mit sich selbst nicht in Widerspruch stehen. Stimmt der Satz A ist B, dann kann es nicht wahr sein, daß A nicht B ist. Dies ist der Satz des Widerspruchs, welchem die exegetische Regel entspricht: Findet man in der Bibel Widersprüche, so müssen sie aufgelöst werden. Eine Auflösung ist aber nur durch die Distinktion, die Ermittlung eines Unterschieds zwischen zwei sich widersprechenden Stellen möglich. In unzähligen Fällen verfährt der Talmud nach dieser Regel.
Die größte Bedeutung unter den exegetischen Regeln kommt der letzten zu, die den talmudischen Namen hat „Dawar halammed mëinjano — der Schluß aus dem Textzusammenhang”. Diese Regel führt uns „am tiefsten in das Innere der Tora hinunter, weil sie uns zeigt, daß gar manches, das auf der Oberfläche bloß äußerlich aneinandergereiht zusammenhanglos oder getrennt erscheint, sich unten tief verwachsen eng ineinander verschlungen erweist.” (Schwarz.) Der „Schluß aus dem Textzusammenhang” ist die „syntaktische Beleuchtung” des Bibelwortes; „… weil das Einzelwort einen anderen Sinn hat, wenn es aus seiner Umgebung herausgehoben wird und wieder einen anderen, wenn es im Rahmen seines Satzes bleibt; und weil ebenso der vereinzelte Satz für sich einen anderen Wert hat und wieder einen anderen Wert, wenn er als Glied einer in sich geschlossenen Kette erscheint” (Schwarz). Dies gilt auch von ganzen Kapiteln und Abschnitten; für das volle Verständnis des biblischen Wortes ist die „Umgebung”, das „Milieu”, immer von größter Wichtigkeit.
Eine der häufigsten Formeln dieser Regeln ist der „Häkesch”, der Vergleich, der aus einem Nebeneinander im Text folgt. Ein Beispiel: „… es wird gelehrt: Rabbi Meir sagte: es heißt: ‚Nach ihrem Ausspruch soll über jeden Streit und über jeden Aussatz entschieden werden‛; welche Gemeinschaft haben Streitigkeiten und Aussatz miteinander? — vielmehr werden Streitigkeiten mit dem Aussatz verglichen: wie der Aussatz nur tags (untersucht wird), wie es heißt: ‚Am Tag, an welchem es erscheint‛, ebenso werden Streitigkeiten nur tags (geschlichtet) … Ferner ist der Aussatz mit den Streitigkeiten zu vergleichen: wie Streitigkeiten nicht durch Verwandte (geschlichtet werden) dürfen, ebenso darf der Aussatz nicht durch Verwandte (untersucht werden).” (Sanhedrin 34b.)
Dieser Schluß aus dem Textzusammenhang ist mit Leichtigkeit in ein logisches Gesetz umzuwandeln (Schwarz). Das textliche Nebeneinander macht auf eine innere Analogie aufmerksam.
Durch die logischen Gesetze, die die sieben Deuteregeln enthalten, hat sich die Bibel im Laufe der jüdischen Geschichte als die „lebendige Lehre” bewährt, die in jeder Zeit und in jeder Situation von neuem befragt werden kann und die stets in der Lage ist, zu antworten. Die Deuteregeln haben die Bibel erweitert und vertieft. Sie haben gezeigt, daß jede Generation in ihr die Lösung ihrer Probleme finden kann. Dadurch hat sich aber das Dogma von der Ewigkeit der Lehre in eine historische Wahrheit verwandelt.